Projekte

Treiber und Inhibitoren des Aufblühens und Verlöschens multimedialer „elektronischer“ Publikationsprodukte in den 1990er-Jahren

Ziele

Bewahrung und Zugänglichmachung, intelligente Vernetzung mit Dokumenten-Digitalisaten und digitalen Dokumenten, medienwissenschaftliche und medienökonomische Einordnung

 Beschreibung

Gegenstand des Projekts ist das digitale (damals: „elektronische“) Publizieren der 1990er-Jahre. Dieser Gegenstand ist mindestens aus zwei Gründen ein Forschungsdesiderat: Erstens ist die Quellenlage in der Übergangszeit zwischen einer zumindest teilweise auf Vollständigkeit bedachten physischen Archivierung in Verlagsarchiven einerseits und einer vielfältigen Dokumentation im Web (Blogs, Online-Marketing, etc.) andererseits im Vergleich mit der Dokumentation der Produktion gedruckter Bücher geradezu prekär (und legt ein digital unterstütztes Vorgehen nahe) und zweitens ist die strukturelle Ähnlichkeit zwischen einigen der typischen Multimedia-CD-ROM-Produkte aus dieser Zeit und heutigen so genannten Enhanced E-Books als Flaggschiff-Produkten des digitalen Publizierens frappierend – nach einer noch im Detail zu begründenden Entwicklungslücke von nahezu 15 Jahren!

Als Beispiele für die angesprochene, schon zur Entstehungszeit herausgehobene Unterkategorie solcher multimedialer Endverbraucher-CD-ROMs seien genannt LexiROM (von Duden und Meyer / Microsoft), David McAuleys Wie funktioniert das ? (von Meyer / Dorling Kindersley) oder Redshift (von USM). Etwas ganz Ähnliches wie die offensichtliche Beziehung zwischen Multimedia-CD-ROMs der 1990er-Jahre und aktuellen Enhanced Ebooks lässt sich im – vom digitalen Publizieren ohnehin nur schwer hart abgrenzbaren – Game-Bereich beobachten: Es gibt Neuauflagen erfolgreicher Videospiele im Bereich der Adventures und Rollenspiele aus den 1990er-Jahren als Apps für Tablets und Smartphones, die sich zudem in dieser Form in einem Prozess der Remedialisierung im Sinne von Jay David Bolter und Richard Grusin in ihren Eigenschaften zunehmend E- Books annähern.

Ein wesentlicher Aspekt des Unterfangens der beteiligten Forscher ist die Aufarbeitung zum einen der technologischen, gesamtwirtschaftlichen, branchen- sowie einzelunternehmensseitigen sowie politischen Treiber (und Inhibitoren !) der dynamischen Entwicklung des digitalen Publizierens ab etwa Anfang der 1990er-Jahre, zum anderen aber auch des relativ abrupten Endes dieser Entwicklung schon etwa 1996/1997. Dabei ist besonders interessant, dass die Produkte im Fokus zwar größtenteils mehr oder weniger leicht der Verlagswelt zugeordnet werden können (über die zugrunde liegenden Texte, die verwendeten Markennamen, etc.), außer den offensichtlichen Interdependenzen mit der generellen Entwicklung des erwachenden Personal-Computer-Marktes aber mediale Einflüsse aus der Computerspielentwicklung sowie – Stichwort: Multimedia – zumindest in einer technologisch bedingten „Schrumpfform“ von den zeitbasierten Medien (Videos, Audios) deutlich erkennbar sind. Nicht zuletzt auch die zunehmende Vernetzung unterschiedlicher medialer Angebote innerhalb multinationaler Konzernstrukturen (Disney, Time Warner, Sony, u.a.) führte auch auf der inhaltlichen Ebene bzw. der Ebene der Narration zu Phänomenen der Medienkonvergenz, die zu einem zunehmend fließenden Übergang zwischen analogen und digitalen Medien in der Entfaltung der gleichen Story World (Marie-Laure Ryan) führen.

Forschung und Aktivitäten

In einem geplanten Workshop werden die Projektbeteiligten wichtige Ergebnisse, auch für die weitere Arbeit, zu einem vorläufigen Gesamtbild, aufbereiten. Zu diesen bereits erzielten Ergebnissen zählt zunächst, dass die bisherige wissenschaftliche und – in Ergänzung – branchenpublizistische Aufarbeitung für die Beantwortung der Forschungsfragen in keiner Weise ausreicht, dass ein physisches Archiv (wie es für die digitale Geschäftseinheit von BI-Brockhaus z. B. im Mainzer Verlagsarchiv vorliegt) ein gutes Stück weiter hilft, dass aber ein noch darüber hinaus gehender Zugang zu Serverdokumenten und E-Mails vor allem zu digitalen und internationalen Projekten schon der 1990er-Jahre eigentlich unabdingbar, wenn auch natürlich schwer zu bewerkstelligen ist – von BI-Brockhaus wurden zunächst Gründe der Vertraulichkeit und des Datenschutzes ins Feld geführt, die sich im Nachhinein gemessen am jetzt erfolgten Ausscheiden des Unternehmens in seiner bisherigen Form aus dem Markt noch als möglicherweise bewältigbar darstellen.

Es sind hier in jedem Fall neue Wege der Archivarbeit zu entwickeln, die bei Erfolg immerhin den Vorteil haben, dass eine zumindest teilweise maschinelle Auswertung erleichtert ist. Des Weiteren kann, der Übertragung des Adaptation-Ansatzes auf zunächst das Literaturgeschäft durch Simone Murray folgend, gezeigt werden, dass die institutionellen Beharrungskräfte die Produktpolitik der Verlage in den 1990er- Jahren stärker beeinflusst haben als die durch die neuen technischen Möglichkeiten gegebenen erweiterten narrativen Optionen. Auch die von Sarah Köhler im Rahmen des Projektes angestellte Untersuchung zu aktuellen E-Books mit Elementen von Computerspielen stellen, v.a. in ihrem historischen und systematischen Teil wichtige Erkenntnisse für die Anwendung auf die 1990er-Jahre zur Verfügung.

Insbesondere gehören zu dem bereits erarbeiteten vorläufigen Gesamtbild aber auch Ergebnisse um die Bewahrung und Zugänglichmachung der im Fokus stehenden Produkte selbst, nicht zuletzt als Teil des digitalen kulturellen Erbes: Im Falle digitaler Publikationen stellt dies neue technische Herausforderungen und erfordert es neue strategische Ansätze. So beträgt zum Einen die Haltbarkeit digitaler Medien im Gegensatz zu analogen Daten- bzw. Informationsträgern nur wenige Jahre bis höchstens Jahrzehnte. Zum Anderen sind digitale Daten nur mit Hilfe der richtigen Software interpretierbar. Kommerzielle Multimedia- Produktionen sind hierbei in einem besonderen Maße von proprietären Formaten und Lese- bzw. Abspielapplikationen geprägt. Insbesondere durch die Verquickung verschiedener Medientypen entstanden neue Interaktions- und Bedienkonzepte, die teilweise spezielle, inzwischen obsolet gewordene Softwareumgebungen (Betriebssysteme, Treiber und dergleichen) sowie nicht mehr erhältliche Hardware (Rechner, Peripheriegeräte, Controller) voraussetzen. Auf konservatorischer Ebene gewinnt der Abspielkontext dadurch zusätzlich an Bedeutung. Um Produkte aus der Vergangenheit auf aktuellen Computersystemen abspiel- und dadurch erforschbar zu machen, hat sich das gut verstandene Vorgehen der Emulation bewährt, das eine zentrale Rolle bei der Herausbildung eines digitalen kulturellen Gedächtnisses spielt – die multimedialen Produkte im Fokus stellen aus den oben genannten Gründen dabei spezifische Herausforderungen.

Es wird dazu ein erstes Vorgehensmodell zur Emulation solcher Produkte entwickelt – unter Berücksichtigung auch der spezifischen Grenzen der Emulation. Emulatoren für alte Heimcomputer und frühe PC-Systeme fanden vor allem mit Aufkommen des WWW zunehmend Verbreitung und wurden durch eine interessierte Gemeinde gepflegt und erweitert – auf diese Entwicklung konnte aufgebaut werden.

Die nächsten Schritte des Projektes, für das erweiterte Drittmittelförderung beantragt ist, sind eine Einordnung der medialen Spezifika der betrachteten Produkte in die zeitgenössische Diskussion, was ein Buch konstituiert und ob die Gutenberg-Galaxis zu einem baldigen Ende kommt, sowie der Aufbau einer webbasierten Applikation, die systematisch als wesentlich identifizierte (meist Windows 3.1 oder 95-) Produkte der Zeit unter einer einheitlichen Oberfläche emulierend darstellt, dies um weitere ergänzten Archivalien digital verfügbar macht und anhand erweiterter Erkenntnisse zwischen Archivalien und anderen Quellen und entsprechenden „Stellen“ in den Produkten (zusätzliche Ebene der Benutzerschnittstelle) aktiv Verbindungen deutlich macht (und, genutzt als Forschungsplattform, weitere herstellen lässt).

Diese Web-Applikation wird also erstens als Forschungsplattform für die hier skizzierte, aber auch für weitere Forschung zu Aspekten der Digitalisierung der 1990er-Jahre genutzt werden können, darüber hinaus aber auch der interessierten Öffentlichkeit in Form eines virtuellen Museums – für dessen Realisierung es schon Entwürfe gibt – höchst aufschlussreiche Einblicke in eine nicht weit zurückliegende und immer noch prägende, aber sehr schlecht dokumentierte „Mediengattung“ geben können und diese nicht zuletzt auch für die Zukunft bewahren.

 Weiterführende Quellen

Literaturhinweise und weiterführende Quellen zum Thema finden Sie in unserem Archiv.